In die Abgründe menschlichen Handelns führt auch der zweite Band der Journalistin und Gerichtsreporterin Isolde Stöcker-Gietl. Wieder berichtet sie von sowohl gelösten als auch ungelösten Kriminalfällen aus der Oberpfalz und Niederbayern, aus unserer nächsten Umgebung also, und genau das, der örtliche Bezug, macht das Buch so interessant. Dabei rückt sie nicht nur die bloßen Tathergänge, nicht die Täter, sondern vor allem die Opfer und ihre Angehörigen hinter den Verbrechen in den Mittelpunkt.
Denn nicht nur in der „großen Stadt“ lauert das Böse, sondern auch in der vermeintlich ländlichen Idylle zeigen sich die Abgründe des Verbrechens. Und nicht nur aktuelle Fälle werden beleuchtet, der älteste Fall ist vor beinahe hundert Jahren geschehen. Im „Doppelgängermord“ täuschte der Täter einen Unfall vor, um an eine hohe Versicherungssumme zu kommen, und tötete dafür einen unbekannten jungen Mann. Die Intuition des Kneitinger Bürgermeisters, der die vermeintliche Witwe informierte, führte letztlich zur Aufklärung des Verbrechens. Aber auch Fälle, die wahrscheinlich vielen in der Region noch im Gedächtnis geblieben sind, werden geschildert. Da ist der junge Briefbomben-Bauer, der sich selbst in die Luft sprengt, als ein Gentest stattfinden soll. Da ist der jugendliche Täter, der nach der Verbüßung seiner Haftstrafe erneut zum Mörder wird und einen jungen Ministranten tötet. Da ist die Amberger Studentin Sophia, deren Mörder durch die engagierte und gezielte Suche von Angehörigen und Freunden über die sozialen Medien rasch gefunden werden kann, bevor er sich nach Marokko absetzt. Aber auch mehrere ungelöste Fälle sind dokumentiert, in denen die Täter oder die vermisste Person bis heute nicht gefunden wurden.
Besonders spannend sind die Passagen, in denen die Arbeit der Polizei und der Fallanalytiker geschildert wird – etwa durch moderne Methoden, Labortechnik oder psychologische Analysen. So sind es mal historische Akten, die auswertet werden, mal beruft sich die Autorin auf Experten und – mit Feingefühl – auch auf Zeugen oder Angehörige. Dabei bleibt sie immer bei den Fakten und vermeidet wilde Spekulationen, anders als es oft bei Hobbyermittlern in der boomenden True-Crime-Szene üblich ist.
Mit „Wahre Verbrechen in Niederbayern und der Oberpfalz“ liegt ein bemerkenswertes Buch vor, das weit über spektakuläre Kriminalfälle hinausgeht. Es ist nicht nur eine Sammlung schockierender Taten, sondern vor allem eine menschliche Bestandsaufnahme: Wer waren die Opfer? Was trieb die Täter? Wie arbeiteten Ermittler? Für Leser, die an Kriminologie, regionaler Geschichte oder der Psychologie von Verbrechen interessiert sind, ist dieses Buch eine empfehlenswerte Lektüre. Auch wer sich bewusst mit der dunklen Seite seiner Heimatregion auseinandersetzen will, findet hier eine fundierte, respektvolle und tiefgründige Darstellung.
Isolde Stöcker-Gietl ist seit 1998 Redakteurin der Mittelbayerischen Zeitung. Als Reporterin für überregionale Themen hat sie über viele Kriminalfälle in der Oberpfalz und Niederbayern sowie über spektakuläre Gerichtsprozesse berichtet. Im Jahr 2017 wurde sie für ihre journalistische Arbeit mit dem Eberhard-Woll-Preis ausgezeichnet.
(arm)


