Als der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz den Begriff von der „Zeitenwende“ formulierte, hatte eine Großmacht begonnen, einen Angriffskrieg gegen einen souveränen Staat zu führen. Dies war eine ganz neue Situation für die deutsche und europäische Politik, hatte man sich doch bis dahin in erster Linie mit Fragen der Wirtschafts- und Sozialordnung beschäftigt, mit Ausgleich und dem Wandel, der durch wirtschaftliche Verflechtungen zu erreichen sei. Aktive Verteidigungspolitik und Investitionen in den militärischen Bereich waren nachrangig, und Deutschland hatte als Macht im Zentrum der europäischen Union wenig Interesse, seine dominante Position politisch auszuspielen. Diese Situation hat sich in den letzten Jahren grundlegend verändert. Die veränderten Rahmenbedingungen sind der Ausgangspunkt für Herfried Münklers Überlegungen, wie die Rolle Deutschlands und Europas neu definiert werden muss.
Die neuen Herausforderungen seien gar nicht so neu, denn der schleichende Erosionsprozess, der demokratische Ordnungen weltweit zersetzt, hat auch vor den Staaten der europäischen Union nicht Halt gemacht. Es sei nicht mehr selbstverständlich, dass die EU eine Gemeinschaft demokratischer Rechtsstaaten sei, weil einige Mitglieder lieber „illiberale Demokratien“ sein wollen. In dieser Konstellation besteht die Gefahr des Auseinanderfallens der europäischen Werteunion mit gravierenden Folgen für Sicherheit und wirtschaftliches Handeln. Hier sei nun die Rolle Deutschlands als sowohl wirtschaftliche als auch politische und kulturelle Großmacht im Zentrum Europas neu zu definieren. Grundlegende Reformen sowohl in Deutschland als auch in der europäischen Union seien dringend erforderlich, sonst werde Europa im Spiel der Großmächte USA, Russland und China marginalisiert, einzelne Staaten herausgebrochen, die quasi als Spielball dominanter Systeme kaum Widerstand leisten könnten.
Deutschland müsse dabei die Rolle eines „servant leader“ übernehmen, einfach weil die Rolle als „dominant leader“ gescheitert ist und Leid über die Welt, Europa und Deutschland selbst gebracht hat. Das führt zu der Frage, ob „der Westen“ überhaupt eine Zukunft hat. Dies hängt stark von der Rolle der Vereinigten Staaten ab, nicht nur von der unbeständigen, erratischen Politik Donald Trumps, sondern vor allem von der Hinwendung der USA in den pazifischen Raum, was bereits die Linie der Politik Barack Obamas gewesen ist. Der bisherige transatlantische Westen, der für die Europäer praktisch und kostengünstig war, könnte auch durch den Rückzug der USA aus der NATO beendet werden. Dies würde zu großen Verwerfungen und Führungsproblemen führen, noch dazu, dass das Land mit der zweitgrößten Truppenstärke, die Türkei, als autokratischer Staat aus der Reihe der Demokratien ausgeschert ist und seine Rolle eher im mittleren Osten sieht.
Angesichts dieser Weltlage müssen dringend grundlegende Reformen in Deutschland sowie der EU folgen, die Politiker dürfen nicht mehr in Wahlperioden denken, sondern die kurzfristige Interessenpolitik zugunsten stabiler politischer und weitsichtiger Verhältnisse aufgeben. Ob das gelingt und ob sich die demokratischen Systeme als tragfähig erweisen, sei nicht sicher. Münkler ist aber kein Pessimist – er sieht vielfache Ansatzpunkte für den Reformwillen sowohl in Deutschland als auch in der europäischen Union, zumal die „Chemie“ zwischen Merz und Macron stimme, die Bedrohung durch Russland und der Wandel der Bündnisse erkannt sei und EU und Deutschland bereit sind, ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Es müssen aber auch die Menschen gewillt sein, Demokratie aktiv zu verteidigen – ansonsten bestehe die Gefahr, dass ein „vom Kreml dominiertes autoritär-autokratisches System“ die Einheit Europas zunichte mache. Und das wäre ein Horrorszenario, das als Weckruf gesehen werden muss. (arm)