Die 1966 im norwegischen Kongsvinger geborene Jazztrompeterin Hildegunn Øiseth tauchte für einige Jahre nicht nur in die Jazz- und traditionelle Musikszene rund um Kapstadt ein, sondern begann auch, die Musik der samischen Ureinwohner im Norden Skandinaviens zu erforschen. Dabei entdeckte sie die Ähnlichkeit ihrer Musik mit der traditionellen Musik Südafrikas. Damit nicht genug, es ging weiter mit ihren Musik-Forschungsarbeiten. Auf mehreren Reisen durch Pakistan suchte Øiseth nach Ähnlichkeiten zwischen den dortigen Ragas und den für die norwegische Folklore typischen Tonleitern. Bei einer Sufi-Veranstaltung in Pakistan entdeckte sie die Verbindung zwischen dem südasiatischen Land und ihrer nordeuropäischen Heimat: Und siehe da, das Ziegenhorn, das in Pakistan bei Sufi-Zeremonien gespielt wird, ist ein traditionelles norwegisches Instrument, das auch von Hirten als Signalhorn verwendet wird.
Einerseits hat Øiseth den dunklen, archaischen „Schrei“ des Ziegenhorns gewissermaßen domestiziert, um ihn im Kontext ihres modernen Jazz zu spielen. Andererseits will sie die Trompete als zeitgemäße Konstruktion des Ziegenhorns verstanden wissen und verfremdet dessen Klang mitunter durch verschiedene Effektgeräte, die sonst nur für die E-Gitarre verwendet werden, um ähnlich emotional und tiefgründig zu klingen wie auf dem Bukkehorn, wie es in Norwegen genannt wird. Mittlerweile spielt sie beide Instrumente mit einer Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit, die sich auf alle Tonleitern überträgt. Die Gründung des Quartetts geht auf einen Tipp des norwegischen Tontechnikers Jan Erik Kongshaug zurück. Er fragte Øiseth eines Tages, warum sie noch nie mit einem Quartett im Studio gespielt habe. Damals hatte sie die Vorteile dieser Besetzung für sie als Trompeterin noch nicht erkannt – zum Beispiel, wie homogen und harmonisch der Klang ihres Blechblasinstruments mit dem warmen, holzigen Sound einer Rhythmusgruppe aus Klavier, Bass und Schlagzeug verschmelzen würde, oder wie diskursiv und eloquent in dieser Besetzung improvisiert werden könnte. Auf ihrem neuen, fünften Quartett-Album „Garden on the Roof“ hat Øiseth die Parameter ihrer Jazzmusik verfeinert. Während sie im Opener „Prelude to Waking“ im offenen Dialog mit Berg und dem Schlagzeuger Per Oddvar Johansen deutlich macht, dass das Ziegenhorn längst zu einem integralen Instrument ihrer Improvisationsmusik geworden ist, spielt sie im folgenden Stück „Luringen“ ein geschicktes Täuschungsspiel, „In Kombination mit Øiseths lyrischem Gesang, einer oszillierenden Harmonik und einem fast tänzerischen Groove von Johansen und dem Bassisten Magne Thormodsæter entwickelt sie eine einfache und singbare Melodie, erst auf dem Ziegenhorn, dann auf der Trompete, wie es in skandinavischen Volksliedern oft vorkommt. Das zweite Stück auf der Platte „Luringen“ erinnert mich – angenehm – an die jazzfolkige Zeit von Jan Garbarek (z.B. an sein Meisterwerk von 1990 „I took up the Runes“ etc.).
Dass Øiseth auch eine politische Künstlerin ist, wird gegen Ende der Scheibe deutlich. Während sie in „About Peace“ dazu aufruft, die vielen bewaffneten Konflikte in der Welt differenziert zu betrachten und die Opfer aller Seiten anzuerkennen, will sie in „Refugee Anthem“ den namenlosen Flüchtlingen, die ihr Leben auf dem Weg in eine bessere Zukunft geopfert haben, eine Stimme geben – ein eindringliches und wieder einmal bitter nötiges Statement von Hildegunn Øiseth und den Musikern ihres Quartetts. (Clap your Hands) HuGe
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