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Die gespaltene Gesellschaft

Jürgen Kaube/André Kieserling

Sachbuch, gebunden, 288 Seiten, Rowohlt, Berlin 2022, 22 Euro
Was hält eine Gesellschaft zusammen? Und was spaltet sie?

Was hält eine Gesellschaft zusammen? Und was spaltet sie? Dieser Frage gehen Jürgen Kaube, Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, und André Kieserling, Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Bielefeld, auf den Grund. Heute, so die gängige Diagnose, herrschten die Polarisierung von Gruppen, Dissens und Kompromisslosigkeit, bedingt durch krasse Einkommens- und Vermögensunterschiede, rassistische Gewalttaten, Hass im Internet oder Fundamentalismus. Das Verschwinden der Mittelschicht und die gesellschaftliche Spaltung seien ein Kennzeichen unserer Zeit.
Ob die in solchen Szenarien gesehene Spaltung der Gesellschaft tatsächlich zutrifft, untersuchen die beiden Autoren und zeigen dabei eine tiefe Skepsis gegenüber diesen Thesen. Denn eine ganze Reihe von ungeklärten Annahmen würden zur Spaltungsdiagnose führen und dabei vor besorgniserregenden sozialen Entwicklungen warnen. Sie stellen sich die Frage, ob die Spaltung der Gesellschaft tatsächlich so dramatisch ist, dass das „Eis, auf dem wir uns befinden, jederzeit brechen“ kann, ob diese Dramatik auf einer rhetorischen Absicht beruht oder einer sachlichen Analyse.
Dazu untersuchen sie zunächst einmal, was den gesellschaftlichen Zusammenhalt überhaupt ausmacht. Denn anders als in kleinteiligen Sozialsystemen wie Familien oder Stammesverbänden muss das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Nation anders definiert werden. Moderne Gesellschaften werden durch verschiedene Milieus mit unterschiedlichen Werten, Vorlieben und Lebensplänen beschrieben, die „Bewohner“ leben in ihren jeweiligen Umgebungen und haben unterschiedliche Interessen. Deshalb sei ein enger sozialer Zusammenhalt kein Merkmal moderner demokratischer Gesellschaften, ja er sei nicht einmal möglich, denn zur Mehrheit der Mitbürger bestehen kaum Bindungen, die über allgemeine Regeln der Verständigung hinausgehen. So drohe keine Spaltung, wenn sich Bürger nicht für die Nationalmannschaft interessieren oder wenn sie nicht im Inland Urlaub machen wie die meisten ihrer Mitbürger. Auch sei die Demokratie nicht dazu da, Homogenität oder Versöhnung zu erreichen, sondern sei ein Verfahren der Konfliktbewältigung und Konkurrenz, bei dem am Ende eine Entscheidung herbeiführt wird.
An verschiedenen Szenarien analysieren die Autoren, wo die Konfliktlinien verlaufen und ob tatsächlich eine gesellschaftliche Spaltung droht oder sich anbahnt. Als Polarisierungen betrachten sie die Konflikte zwischen Demokraten und Republikanern in den USA, zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland, zwischen Geimpften und Ungeimpften, Armen und Reichen, zwischen Gesellschaft und Parallelgesellschaften oder zwischen Menschen und alten weißen Männern im Einzelnen und verwerfen in den meisten Fällen die Spaltungstheorie; lediglich die Situation in den USA und Nordirland sei als problematisch zu sehen, andere seien Konflikte, die jede Gesellschaft aushalten und austragen muss und kann. Einen großen Anteil vom „Gerede über die drohende Spaltung“ sei auf die Konfliktscheu der Politik und Politiker zurückzuführen, die dadurch fehlende Entscheidungen rechtfertigen würden. Die Probleme für die (deutsche) Gesellschaft seien also nicht unüberbrückbare Gegensätze, sondern eher die mangelnde Bereitschaft, unpopuläre Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen.
Damit wollen die Autoren die mediale Aufgeregtheit und öffentlichen Dissens zurechtrücken und entschärfen, zu mehr Sachlichkeit und weniger Skandalisierung beitragen und „in einer unübersichtlichen Lage für Orientierung sorgen“. Ob man ihnen dabei immer folgen muss, sei dahingestellt. (arm)