Tristesse und Melancholie sind’s, die einen spätabends nach Haus begleiten, am Ende dieser Lesung aus „Noch wach“ von Benjamin von Stuckrad-Barre. Denn welcher Ort auf der Welt wäre noch weniger geeignet gewesen als das „Airport“ in Obertraubling, für das, was sich hier ereignet hatte?
Leaks und Coverstory
Nämlich eine Lesung aus jenem Roman, der mit einem solchen medialen Rückenwind und Karacho ausgestattet war, wie nichts zuvor in der Literaturgeschichte nach 1945. Begonnen hatte der mediale Sturm mit dem von der Hamburger „Zeit“ veröffentlichten, nächtlichen WhatsApp-Traffic von Springerboss Mathias Döpfner. Sodann – am Abend nach der im Berliner Ensemble präsentierten Weltpremieren-Lesung und zeitgleich zum Veröffentlichungsdatum des bis dahin streng geheimen Romans (gebunden erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, 25 Euro), zierte Benjamin von Stuckrad-Barre als Coverboy den Spiegel. Und so weiter und so weiter.
Und jetzt, keine drei Wochen später: Rund 200 Gäste in dieser Disco, mitten in einem trostlosen Gewerbegebiet. Neben der Bahnstrecke, auf der Intercitys vorbeijagen und Güterzüge dahinruckeln, ein zugiger Ort, von nächtlichen Schauern durchlüftet wie eine Auslieferungshalle für Kaltgetränke. Das Tresenpersonal, das Pepsi aus Coca-Cola-Eisschränken verkauft, ist spätestens nach 70 Minuten so ungeduldig, dass die Akustik von zartem Hintergrundrauschen verpixelt wird. Und vorne? Auf einer rund einmeterzwanzig hohen Bühne, da sitzt er, der clowneske Matador des Abends, im Ringelshirt und qualmt eine nach der anderen. Trinkt irgendein Zitronensafterl aus seiner Kaffeetasse, um zu signalisieren, wie er sie drauf hat, die fein austarierte Balance aus Bekenntnis zum toxischen Leben und zur Fitnesspraxis. Verschluckt sich mal dran, um dann, energetisch wie ein Flummi, aufzuspringen, die Hände an die Ohren zu halten und gestenreich Applaus einzufordern.
Schlüsselroman reinsten Wassers
Die stärkste Lesepassage ist gleich die erste: Da nimmt uns der Autor mit, auf die Baustelle eines neuen Pressepalasts in Berlin – und wie er immer wieder betont, dass das alles natürlich „total ausgedacht“ sei, „reine Fiktion“ und „Vexierbild“ von Wirklichkeit, da muss auch dem Letzten hier im Airport klar werden: „Noch wach“ ist ein Schlüsselroman reinsten Wassers. Und jedes Wort spiegelt die subjektiv erlebte Wirklichkeit des Autors wieder. Denn wie er sodann das ganze Dummdeutsch hiesiger Pressetycoons vorführt, diese Mischung aus Ökonomenquatsch und ersatzreligiösem, von Anglizismen des Sprachniveaus A1 unterfütterten Verheißungsvokabular, das darin gipfelt, dass die gute alte Geistesarbeit als „New Work“ bezeichnet wird, die in mit Douglasie ausgelegten Rooms geleistet wird, die ihrerseits mit Duschen aufgemaschelt werden, das hat die Qualität von Eckhard Henscheid, des in Amberg lebenden Meisterpolemikers. Der hatte übrigens – ähnlich wie der Star des Abends – Kontakt zu Regisseur Helmut Dietl. Und war wohl, wie er der Mittelbayerischen Zeitung exklusiv am Telefon erzählt, heilfroh, dass die in den späten Siebzigern gefassten Pläne, gemeinsam mit Herbert Rosendorfer das Drehbuch für „Kir Royal“ zu schreiben, schließlich im Sande verlaufen seien – „und die Sache einschlief“.
Benjamin von Stuckrad-Barre freilich hatte nie Berührungsängste – immerhin arbeitete er zehn Jahre für Axel Springer SE und war der Freund vom CEO und vom Chefredakteur: Für Dietls so genial misslungenen finalen Akkord, für „Zettl“, war er der Ko-Autor. „Noch wach“ ist, wenn man so will, nunmehr das aufs Globale skalierte Porträt einer Branche unter dem Eindruck der #metoo-Skandale. Alle Beteiligten (die Porträtierten sind allesamt Menschen vom Interessantheitsgrad einer plagiierten Doktorarbeit) an diesem Jahrmarkt der Eitelkeiten sind bereit, den Erfolg im System über alles zu stellen. Und sich deshalb jedem Diktat zu unterwerfen. Und, im Gegenzug, von seinem Personal jede Art der Unterwürfigkeit zu verlangen.
Benjamin von Stuckrad-Barre ist erkennbar ein Grenzgänger, einer, der Teil dieses hochkorrupten Systems war. Und dem es jetzt gelingt, wie in einem Kronzeugenprogramm, den Befreiungsschlag zu wagen, mit Hilfe dieses Romans. Ob er trocken, ob er clean ist, weiß man nicht. Der 48-Jähige hat was Raubtierhaftes, das ganz gut aufgehoben ist, hier auf dieser überdimensionierten Bühne. Hibbelig, dauernervös, die Zigarette inhalierend wie ein Patient, der auf der Intensivstation Sauerstoff verabreicht bekommt. (Peter Geiger)
Zitatelement: „Nee, nee. Das müsst Ihr zuhause weiterlesen. Das kann ich Euch vor 22 Uhr gar nicht zumuten!“