turmtheater

In einem kühlen Grunde

Blick in die Höhle der Heimat: Im Turmtheater feiert Sibylle Schleichers aufwühlendes Volkstheater eine vielumjubelte Uraufführung

Weitere Aufführungen am 17. und 18. Mai

Mit Afra sollte man sich besser nicht anlegen. Denn die schürzentragende Wirtin vom titelanimierenden Gasthaus „Zum kühlen Krug“, von Inge Faes so beängstigend real gespielt, dass einem eine gallenbittere Mischung aus Grauen und Lachen den Hals verklebt, sie ist eine ganz eine Rabiate. Nicht nur, weil sie aus dem engen Korsett ihres Dialekts kaum rauskommt. Und deshalb in ihrer Paraderolle als harte und unherzliche Zwiderwurzen auftrumpfen kann, von der Bühne hier im Turmtheater, wo dieses Stück Volkstheater aus der Feder von Sibylle Schleicher seine Uraufführung erlebt, unter der präzisen Regie von Veronika Wolff.

Ungeschliffene Klinge

Afra, sie bezieht ihre toxische Dickschädligkeit aus Lebensweisheiten wie „Wo kein Hahn ist, da kräht die älteste Henne“, die sie tagein tagaus Blatt für Blatt aus dem Kalender abreißt. Fliegen, die über den Küchentisch krabbeln, ermurkst sie allesamt mit diebischer Freude und sicherer Hand. Ihre Trefferquote liegt bei hundert Prozent. Als nun völlig überraschend die von Heike Ternes die wie ein konträrer Legobaustein in urbaner Variante angelegte Sieglinde auftaucht, die soeben verwitwete, verloren geglaubte Schwester aus der Stadt, da greift Afra prompt ins martialisch dastehende Büffet – diesem Musterbeispiel von Gelsenkirchener Barock – und zückt unvermittelt das Brotmesser. Gottseidank ist die Klinge aber so ungeschliffen wie die Bewaffnete selbst. Sonst wäre dieses Spiel schon nach wenigen Minuten beendet. So aber geht’s richtig ab. Und wir, das Publikum, erhaschen über 70 Minuten aus den Dialogen – wobei die letzten beiden Silben prägend sind, was deren Wahrheitsgehalt anbelangt – die jeweiligen Interpretationen der, naja, insgesamt doch ziemlich frustrierenden ruralen Faktenlage. Der eine Mann, der Severin also, ist tot, das Wirtshaus, wie sich irgendwann rausstellt, nur ein von Kassetten-Geräuschen akustisch aufrechterhaltener Fake-Betrieb. Und der Edi, Afras Mann? Ist der nur nicht da, oder was ist mit ihm? Wie auch der lediglich via Anrufbeantworter präsente Sohn, der sich plötzlich mit einem anwaltlichen Brief, Severins Erbschaft betreffend, konfrontiert sieht – wer also ist sein tatsächlicher Erzeuger? Am Ende jedenfalls sind sämtliche Lügengebäude in sich zusammengekracht, wie die Plastikklappkisten, mit denen Afra ihre Einkäufe besorgt. Und die Standfestigkeit der verbal errichten potemkinschen Dörfer hat allenfalls die Qualität weichkochender Kartoffeln. Weil sich die wie ein Leitmotiv durchs Spiel ziehende Ankündigung „Das besprechen wir später“ final als Turbulenzen klärendes Versprechen erweist.

Blutleere Nebenfiguren

Sodass – ohne jetzt Details spoilern zu wollen – auch noch Themen wie Reichsbürger und Unterbringung von Asylbewerbern im Plot angerissen sind. Womit wir aber auch schon bei dramaturgischen Schwächen dieses Stücks angelangt wären. Denn Punkte wie diese bleiben unverdientermaßen durch die rein dialogische Vermittlung naturgemäß blutleer. Der Blick in die Familienhölle offenbart sich lediglich auf dem Umweg durch die platonische Höhle des taktisch die Familienmythen abschichtenden Schwesterndialogs. Und gerade, weil wir, das Publikum, genötigt sind, uns durchs Dickicht dunkler verbaler Schattenwürfe zu kämpfen, ist es uns verunmöglicht, mit jener Art von Passion am Geschehen teilzuhaben, die möglich wäre, begegneten wir Gestalten aus Fleisch und Blut.

Das illuminierte Küchenkastl

Dennoch: „In einem kühlen Grunde“ – der Titel geht zurück auf das berühmte Gedicht von Joseph von Eichendorff, in dem ein zerbrochenes Ringlein Symbol ist, für erlittene Untreue. Weshalb der Betrogene als Spielmann oder berittener Soldat hinaus möchte, in die Welt. Ja, das ist vielleicht der poetologische Kern dieses Volkstheaters: Dass der Mensch, sei er Städter oder Dorfbewohner, im immerwährenden Rattenrennen des Alltags Gefahr läuft, das zu verlieren, was in der barocken Dichtkunst als der „Seelen Schatz“ bezeichnet wurde. Und das wiederum, wird in der Bildsprache dieser Inszenierung kommuniziert: Wenn Sieglinde nämlich durchschlüpft, durchs mit Leuchtschläuchen illuminierte Küchenkastl (Ausstattung: dann ist das Demütigende und Niederwerfende dieses höchst autoritären Systems Familie auf den Punkt gebracht. Was wiederum in der Gesamtbilanz die genannten Schwächen in Kombination mit dem nach geschwisterlicher Harmonie strebenden zweistimmigen Gesang aufhebt – und das Ganze zu einem großen Sehvergnügen adelt. Ab September wird das Stück dann weiter aufgeführt.  (Peter Geiger)

Fotokredit: Dieter Popp