Seine Kindheit verbrachte Thomas von Steinaecker unweit der Grenze zur Tschechoslowakei. Der 1977 geborene Schriftsteller wuchs auf, im Schatten des Eisernen Vorhangs, hier, bei uns in der Oberpfalz, in Oberviechtach. Dort las er als Grundschüler schon Heldensagen und Kafka, schnitt Modern Talking und A-ha auf Cassette mit, wenn solche Synthie-Sounds in der Radio-Hitparade liefen, und war Ministrant. Als er 12 ist, da beginnt nicht nur jenes Tauwetter, das die eingefrorene Konfrontationskonstellation des Kalten Kriegs urplötzlich dahinschmelzen lässt. Und die Oberpfalz, Bayern und Deutschland herauskatapultiert, aus dem Zonenrand – und zurückführt, ins Herz des Kontinents. Thomas von Steinaecker selbst entdeckt in diesem Sommer, bei einem München-Ausflug mit seiner kulturell höchst ambitionierten Familie, eine Schallplatte, die so ganz und gar nicht den üblichen Geschmackskategorien angehender Teenager entspricht.
Synästethische Partituren
Aber der „Gesang der Jünglinge“ von Karlheinz Stockhausen (1928 bis 2007), er packt ihn und wird von nun an sein Leben prägen. Diesem so grundstürzenden Ereignis, dieser Begegnung mit der zentralen musikalischen Stimme der Avantgarde, ihr widmet Thomas von Steinaecker nunmehr gemeinsam mit dem Zeichner David von Bassewitz eine große, monumentale Arbeit – und zwar die Graphic Novel „Stockhausen. Der Mann, der vom Sirius kam“ (Carlsen, 44 Euro). Und weil der Autor ein Künstler ist, der in verschiedenen Genres zuhause ist, der nicht nur Romane schreibt, sondern auch Dokumentarfilme und Hörspiele inszeniert, kann er hier, im ersten, 400 Seiten starken Band, sein ganzes Können abrufen. Und schaltet dabei Stockhausens Biographie, diese „klassische Superheldengeschichte“, geboren aus der Tragik und dem Elend des Dritten Reichs, mit der eigenen Entwicklung in Reihe, und verdrahtet so diese früh- und spätbundesrepublikanischen Lebensläufe zu etwas völlig Neuartigem. Thomas von Steinaecker spielt dabei souverän auf der Klaviatur der Stoffe und kombiniert die einzelnen Kapitel zu synästhetischen Partituren. Dabei kommt ihm, dem vielfach ausgezeichneten Schriftsteller zugute, dass er sich auf Schnitttechnik versteht und auch Bescheid weiß, über die suggestive Kraft, die Bildern innewohnt, wenn es darum geht, Geschichten auf eindringliche Weise zu erzählen.
Am Set in Oberviechtach
Im Sommer 2017 hatte der Autor dieser Zeilen Gelegenheit, bei der Recherche vor Ort in Oberviechtach dem Autor wie auch dem Zeichner über die Schulter zu schauen. Wie das Künstlerduo dabei akribisch recherchierte und Landmarks der Steinaecker’schen Kindheit einfing wie beispielsweise Wirtshausschilder, Kirchtürme und Straßenfluchten. Um auf diese Weise den Geist dieses oberpfälzischen Örtchens einzufangen und dessen Essenz zu bannen. Das Ergebnis schnurrt vor dem Leserauge ab wie ein Super-8-Film, entführt auf eine Zeitreise durch die Nachkriegsjahrzehnte und ist zugleich eine fundierte und Neugier stillende Geschichtsstunde, was die Entwicklung elektronischer Musik anbelangt. Inklusive ihrer Verästelungen hinein in den Pop, sei es, was die Beatles anbelangt, aber auch in puncto deutscher Avantgardisten wie Neu, Can oder Kraftwerk.
Im Bann der Künste
Karlheinz Stockhausen war ein Genie, fremd und faszinierend zugleich, einer, der nach eigenen Worten „vom Sirius kam“ und ausersehen zu sein glaubte, mit dem Hammer zu komponieren. Er glaubte zutiefst an die utopische Kraft von Musik. Ob man dies eine heutige Leserschaft noch immer für aktuell halten mag, das ist für diese Lektüre nicht relevant. Interessant ist, welche Kraft und welche Macht Karlheinz Stockhausen den von ihm in die Welt gebrachten Klängen zuschreibt. Und wie es Thomas von Steinaecker seinerseits schafft, ein solches sonisches Ideengebäude in seine Ausdrucksform zu transformieren. Und ihm eine eigene, gleichermaßen anspruchsvolle wie leicht zugängliche künstlerische Form zu geben, irgendwo zwischen Literatur und Kino, die auf Papier das festhält, was ansonsten nur Zelluloid und Vinyl vermögen. Und am Ende ist es natürlich auch eine Geschichte über Thomas von Steinaecker selbst: Über sein Werden und Wachsen im Schatten des Eisernen Vorhangs. Und darüber, wie einer in den Bann der Künste gerät. Und dabei lernt, „ich selbst zu sein“. (Peter Geiger)