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Ich war mit Jesus beim Weißwurstessen

Wladimir Kaminer eröffnete am 8. März in der Mälze den Kleinkunstfrühling-Frühling und nimmt sein Publikum dabei mit nach Oberammergau, Brandenburg und Neunkirchen

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile? Ja, bei Wladimir Kaminer, dem literarischen Kolumnisten, der sich vor fast einem Vierteljahrhundert mit seiner Geschichtensammlung „Russendisko“ in den Verkaufsolymp hochschrieb und seither als gefeierter Bühnenstar durch die Lande tingelt, trifft das ziemlich präzise zu.

Denn all die von ihm gesammelten und zu Geschichten verdichteten, auf die Zwerchfellmuskulatur zielenden Puzzleteilchen, sie verfügen einzeln betrachtet allenfalls über mittleres Komikpotential. Wenn er also an diesem Abend mehrfach seine „Corona-Trilogie in zwei Teilen“ ankündigt oder den alten Sowjetwitz zitiert, dass die Erfüllung des Fünfjahresplans schon nach vier Jahren oder – was der Pointe sodann den finalen Knalleffekt verleihen soll – schon nach drei Tagen gelungen sei, dann vermag das lediglich ein zartes Zittern im Mundwinkelbereich auszulösen.

Mustergültige Musterhaftigkeit

Aber: Wladimir Kaminer ist vor allem ein brillanter Interpret seiner selbst. Ebenso verfügt er über die Gabe, die Frequenz solcher Miniatürchen extrem hochzuhalten, sodass sich tatsächlich bald Wundersames ereignet. Es schält sich aus der Quantität etwas heraus, was – jenseits aller Gönnerhaftigkeit – als Qualität bezeichnet werden muss. Noch viel erheblicher freilich ist seine Fähigkeit, all diese Witzchen so geschickt miteinander zu kombinieren und auch zu wiederholen, dass Muster entstehen – und somit musterhafte Unterhaltung. Bald ist sein Publikum hier in der Mälze, beim restlos ausverkauften Auftakt zum diesjährigen Kleinkunstfrühling, vertraut mit seinem aus skurrilen Familienmitgliedern bestehenden Personeninventar. Da ist zuvorderst die eigene, 91-jährige Mutter, die zu Sowjetzeiten zuhause in Moskau Festkörperphysik unterrichtete und heutzutage in Berlin am Computer Schach spielt. Dabei falsche Tasten drückt und sodann seltsamen, von Algorithmen generierten pseudo-chinesischen Weisheitsregeln begegnet. Oder mit ihren gleichaltrigen Freundinnen einen Kulturkreis unterhält, weshalb sie gerne Wagneropern besucht. Auch seine 26-jährige Tochter, die irgendwas mit Genderstudies und Postkolonialismus studiert, nutzt er als Running Gag: Und zwar immer dann, wenn er sich über ihm missfallende Moden und Zeiterscheinungen lustig machen möchte und das Binnen-I der Lächerlichkeit preisgibt.

Apokalypse now!

Trotz solcher Betulichkeiten nimmt die Sache kräftig Fahrt auf, er umkreist die durch die Pandemie geprägte allerallerjüngste Vergangenheit. Es fällt immer wieder der Begriff der „Apokalypse“ und mit dem sterilen Behördenwort der „Tanzlustbarkeit“ bringt er all das meisterhaft auf den Punkt, worauf bei hoher Inzidenz verzichtet hatte werden müssen. Im verschwiegenen nördlichen Brandenburg, da verlief die Krise aber ganz anders. Hier lebt er, und weil die Bewohner seines Dorfes kaum miteinander kommunizieren, hätte das Virus auch kaum Chancen gehabt, sich durch die Atemluft zu verbreiten. Gleichzeitig ist Wladimir Kaminer „fürs Kulturfernsehen“ wie er sagt (und damit 3sat meint) unterwegs: Die Dreharbeiten führten ihn mit Heino ins saarländische Neunkirchen. Nachdem der Schlageroldie wegen der Überschwemmungen des Sommers 21 (wieder Apokalyptisches also) seine Tourneepläne hatte abblasen müssen, hätten sie sich eingetragen, ins Goldene Buch der Stadt. Gleich unter dem berühmtesten Sohn der Stadt, unter Erich Honecker. Und im ersten, von Lockdowns geprägten Seuchenjahr, da drehte er in Oberammergau: In diesem Zusammenhang fällt der lustigste Satz an diesem Abend. Und der bedarf zur Pointenbetonung nicht einmal der Wiederholung. „Ich habe neben Jesus gesessen und mit ihm Weißwürste gegessen!“ Gemeint ist natürlich der Darsteller des Protagonisten bei den Passionsfestspielen – und mit solchen spaßigen Wunderkerzen landet Wladimir Kaminer in den Herzen seines Publikums. Das nach knapp zwei Stunden nicht müde wird zu klatschen und per Akklamation einwilligt, auch beim nächsten seiner Regensburg-Auftritte wieder dabei zu sein. (Peter Geiger)