Die Zahl der Comebacks von Iggy Pop in den letzten fünf Jahrzehnten ist mittlerweile zweistellig. Angefangen mit dem Stooges-Album „Raw Power“ aus dem Jahr 1973 über seine Bowie-Phase in den späten 70ern, Radiohits in den späten 80ern und frühen 90ern bis hin zu einer erfolgreichen Stooges-Reunion in den 00ern – für einen Künstler, von dem man nicht erwartet hatte, dass er seine 20er Jahre hinter sich lassen würde, hat sich Pop erstaunlich oft erholt bzw. neu erfunden. Sein 2016er-Album „Post Pop Depression“ war sein bestes Album seit Jahren, aber der Schwung wurde durch den 2019er-Nachfolger „Free“ gebremst, der den Godfather of Punk als Jazzsänger positionierte. Mehr als drei Jahre nach diesem kuriosen Fehltritt ist es an der Zeit für ein weiteres Comeback von Iggy Pop, das in Form seines 19. Soloalbums „Every Loser“ Anfang Januar erschienen ist und das er auf seine unvergleichliche Art so angekündigt, er wolle mit diesem „die Scheiße aus euch rausprügeln“.
Auch wenn der neue Longplayer nicht an die Triumphe von „Raw Power“, „The Idiot“ oder sogar „Post Pop Depression“ heranreicht, so gehört „Every Loser“ doch zu den stärkeren Werken von Pop im 21. Jahrhunderts. Produziert von Andrew Watt, der Ozzy Osbournes „Patient #9“ und Eddie Vedders „Earthling 2022“ mit auf den Weg gebracht hat, sprüht „Every Loser“ vor ähnlicher Energie und wartet mit einer Reihe von bekannten Musikern auf – darunter Duff McKagan von Guns N‘ Roses und Chad Smith, Schlagzeuger der Red Hot Chili Peppers -, die zum wachsenden Stamm des Produzenten gehören. Ex-Chili-Peppers-Mitglied Josh Klinghoffer spielt Gitarre und diverse Tasteninstrumente und außerdem sind noch Dave Navarro und Eric Avery von Jane’s Addiction dabei. Einige der Musiker sind auch als Co-Songwriter gelistet.
Watt hat sich in den letzten Jahren zu einem gefragten Rockproduzenten entwickelt, nachdem er mit Justin Bieber und Miley Cyrus angefangen hat, und er greift nur selten in den Kernsound eines Künstlers ein. Er ist weniger ein Architekt als vielmehr ein Studio-Chamäleon, das für seine Osbourne-Projekte den Metal der 80er Jahre und für die Vedder-Scheibe den Grunge-Glanz der 90er Jahre adaptierte und das Ganze mit einem modernen Anstrich versah. Für Pop verwendet er 70er-Jahre-Punk über das 00er-Jahre-Revival für die Riff-getriebenen „Frenzy“, „Strung Out Johnny“ und „Modern Day Rip Off“ sowie New-Age-Ambiente für ein paar Spoken-Word-Einlagen. Über ihn sagt Pop in einem Interview: „Er scheint den klassischen Rock in einer Weise aufgesogen zu haben, dass er herauskommt und nicht klassisch klingt. Es klingt wie heute, aber es klingt immer noch wie damals. Es gibt da eine Sache bei meinen Platten … sie klingen alle auf die eine oder andere Weise etwas rau. Sie werden nie zu sehr poliert. Einige von ihnen schon, vielleicht ‚Lust for Life‘, ein paar Sachen auf ‚Brick by Brick‘, aber mein eigener Geschmack ist mehr für das DIY. Ich mag Link Wray viel lieber als Yngwie Malmsteen, um es mal so zu sagen. Ich glaube, das beeinflusst die Produzenten, mit denen ich zusammenarbeite, damit sie das Projekt nicht zu sehr aufpolieren.“
Mit seinen leider nur 36 Minuten dauernden Spielzeit verschwendet das 11-Track-Album konsequent wenig Zeit mit Stimmungsaufbau und Subtilität, was dem aggressiv jugendlichen Pop sehr entgegenkommt. Er nutzt seine Gesangstricks (ernster Bariton, raues Heulen, Bosheit, die aus jedem zweiten Wort tropft), um den Songs Gewicht zu verleihen oder, am überzeugendsten, die bodenlose Unverschämtheit eines ewigen Punks, der auch mit 75 Jahren noch wütet. „Ich bin rasend, du verdammter Mistkerl“, singt er – noch milde übersetzt – im Refrain des mitreißenden Garagen-Rockers „Frenzy“ und klingt dabei wie einer, der nach der Zeit der Pandemie dringend ein Ventil brauchte. „Ich habe die Krankheit satt“, schimpft der ehemalige Frontmann der Stooges mit Übersteuerung ins Mikrofon. Das macht richtig Spaß! Soweit so wild – nach dem packenden Albumopener wird es etwas gemächlicher, jedoch nicht weniger cool. Eine lässige Bassline und markante Keyboard-Riffs verpassen „Strung Out Johnny“ einen starken New-Wave-Einschlag, bevor der rifflastige Punk-Refrain einsetzt. Inhaltlich geht es um den Absturz in die Drogenabhängigkeit. Damit kennt sich der Sänger, der nach eigener Aussage seit über 20 Jahren clean ist, bestens aus. „New Atlantis“ kann wahrscheinlich als Ballade durchgehen. Es ist eine Liebeserklärung an Iggy Pops Wahlheimat Miami, die er im Song als „eine wunderschöne Hure von einer Stadt“ bezeichnet. „Aber jetzt versinkt sie im Meer“, singt er in Anspielung auf den steigenden Meeresspiegel, der die Metropole in Florida bedroht. In „Neo Punk“ sagt er ein paar Worte über die jüngere Generation – „Emotional I am a celebrity / I don’t have to sing, I’ve got publishing“ – und lässt in dem das Establishment beleidigenden Schlusssong „The Regency“ Dutzende von F-Bomben fallen, was beweist, dass Macht in Pops Händen immer noch am besten roh rüberkommt.
Die wilden Zeiten, in denen Iggy Pop Hotelzimmer demolierte, sind lange vorbei, auch stage-diven will er nicht mehr. Aber musikalisch kann die Punk-Ikone auch mit 75 Jahren immer noch ziemlich wild werden – wie er auf seinem neuen Album „Every Loser“ beweist. Er setzt sich auch im Alter keine Stilgrenzen. Wie selbstverständlich lässt dieser Mann kräftigen Punkrock, lässig groovende Balladen und Power-Pop mit Synthesizern zu einem kurzweiligen, packenden Album verschmelzen, das schon beim ersten Durchlauf zündet. (Gold Tooth Record/Atlantic) P.Ro/UCR *****/*
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