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Die Nerven

Die Nerven

Das ist für Kuhn, Knoth und Rieger, die sich in den letzten zwölf Jahren zu einer der profiliertesten Rockbands des Landes entwickelt haben, ihr bisher wichtigstes Album.

Seit zwölf Jahren gibt es diese Band, gegründet in Esslingen und mittlerweile verteilt auf Stuttgart und Berlin, und sie gelten heute nicht nur als eine der besten Live-Bands des Landes, sondern sind 2022, das Jahr, in dem ihr fünftes, selbstbetiteltes Album erscheint und umfangreich betourt wird, nicht mehr wegzudenken aus den lebendigen Regionen der Musikwelt – sie befeuern und prägen sie! Kevin Kuhn, einer der melodischsten und eigenständigsten Schlagzeuger der Gegenwart, trommeltauch bei Gordon Raphael und Wolf Mountains, Julian Knoth legt mit dem Peter Muffin Trio und Yum YumClub beindruckende, wuchtige und der Avantgarde nahe Platten vor, und Max Rieger (u.a. All diese Gewalt)produziert sich mit Casper, Drangsal, Die Selektion, Friends Of Gas, Ilgen-Nur, Jungstötter, Stella Sommeretc. an die Spitze der deutschen Musikindustrie jenseits vorhersehbarer Plastikwerke. Anfang Oktober erschien nun das fünfte Album des Trios, das schon als ihr „schwarzes“ Album definiert wird. Weil es wie ein Monolith dastehen wird, in der Tradition der schwarzen Alben von Metallica, Jay-Z und Prince? Das wird die Zeit zeigen. Titel und Farbe markieren jedoch ganz unmissverständlich: Das ist für Kuhn, Knoth und Rieger, die sich in den letzten zwölf Jahren zu einer der profiliertesten Rockbands des Landes entwickelt haben, ihr bisher wichtigstes Album.

Hier manifestiert sich vielmehr das Resultat einer der fruchtbarsten Symbiosen der jüngeren Rockgeschichte, als eine zehn Songs dauernde, schweißtreibende Feier der kreativen Kraft von Rieger, Knoth und Kuhn. Sie haben zu einem neuen Dialog gefunden. Wirkten im bisherigen Songwriting äußerst ausgeprägte Egos manchmal auch gegeneinander, forderten Rieger, Knoth und Kuhn nun geradezu vom jeweils anderen ein, sich in seiner extremen Eigenart einzubringen. Es herrscht keine Konkurrenz mehr. Aus drei Egos ist ein gemeinsames Ego geworden. So steht das Ungeschliffene, das in seiner gewaltigen Brachialität noch immer von Punk getrieben wird, dem Pop nicht entgegen, sondern verbindet sich mit ihm: Die gegensätzlichen Pole bei DIE NERVEN haben zu einer eigenen Form der Verschmelzung gefunden. Sie spielen auf einem neuen Niveau zusammen, dienen nur noch dem Song. Bisweilen muss man sogar genau hinhören, wer da nun gerade singt. Durch die Corona-Zwangpause gab es zum ersten Mal in der Band-Geschichte einen Raum, in dem sich die drei Musiker regelmäßig trafen, um ihre Stücke zu entwickeln. Hieß es früher: zehn Skizzen fürs Studio und die Hoffnung, dass dort ein elftes Stück entsteht, war hier die Devise: 20 ausgereifte Songs, von denen sich zehn beweisen müssen. Vielleicht lag darin auch die Kompensation der Live-Situation, die in der Pandemie wegbrach und somit nicht zum Ursprung eines Albums werden konnte. Vielleicht hat die Zwangspause von den Bühnen der Band gutgetan, zu einer Verjüngung geführt, die gleichzeitig an Reife gewinnen ließ. Zehn aus 20 Stücken also waren schließlich übrig, als die drei dann in die Berliner Candy Bomber- Studios gingen, um ihre Songs – irgendwo zwischen den zwinkernden Referenzpunkten Rammstein, Godspeed You! Black Emperor und, ja: (Max Rieger:) “Wagner!“ live einzuspielen.

Das Ergebnis sind zehn in Form und Inhalt vollendete Gegenwartsbetrachtungen mit Schaum vor dem Mund. EUROPA und ICH STERBE JEDEN TAG IN DEUTSCHLAND – wie alle Texte 2018/19 entstanden und somit irritierend visionär – offenbaren diese Band als Teil einer behüteten Generation, die zu ahnen beginnt, dass ihr noch ganz andere Zeiten bevorstehen, und dass das erlebte Leid der Anderen untrennbar mit den eigenen Privilegien zusammenhängt. Deshalb: KEINE BEWEGUNG; vielmehr: Passivität und Ohnmacht ob der sich zuspitzenden Zustände, konterkariert durch die Wucht des Songs! ALLES REGULIERT SICH SELBST entlarvt den Slogan als Lüge, macht das Kippmoment ins unausweichliche Chaos spürbar. GANZ EGAL erzählt sardonisch von der Sattheit einer Generation und vertont die Energie einer Auflehnung gegen diesen Zustand. Im Perspektivwechsel dann erleben wir – mit einem gewissen Zynismus erzählt –, wie die bis hierhin gewonnenen Erkenntnisse die Sozialen Medien überfordern und in ihnen eine übelschmeckende, narzisstische Dekadenz aufdecken: EIN INFLUENCER WEINT SICH IN DEN SCHLAF. Am anderen Ende werden wir ganz unabwendbar DER ERDE GLEICH – und der Existentialismus, der diese Combo stets getrieben hat, findet zu einer gewaltigen Songkraft. Hieß es früher nur für eine Minute schweben, dreht sich die Welt seit dem noch um einiges schneller: 15 SEKUNDEN sind nicht EIN TAG, und doch erzählen diese beiden Stücke gemeinsam von der Absurdität und Grausamkeit des späten Kapitalismus, ergänzen sich in Wut und Melancholie. „180°“ dann scheint sich zu guter Letzt auch um die eigene Achse zu drehen, blickt zurück auf das in den letzten 40 Minuten Vorausgegangene und manifestiert die Themen dieser schmerzhaften, ehrlichen und heftigen Platte: eine Gegenwartsbeschreibung – vom Anfang vom Ende! Baby, setz‘ den Wagen an die Wand! (Glitterhouse Records) P.Ro

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